Salman Ansari Menschen · Natur · Leben · Literatur · Musik

25Sep/13Off

Rettet die Neugier – Gegen die Akademisierung der Kindheit

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Erstes Kapitel

Der Wunsch zu lernen ist der Wunsch nach Bewältigung der Wirklichkeit

Teil einer zukunftsfähigen Allgemeinbildung sind (…) Fähigkeiten der Selbstorganisation und Selbst­regulation des Lernens einschließ­lich der Bereitschaft, selbständig weiterzulernen und der Fähigkeit, Durststrecken im Lernprozess zu überstehen. BLK 1997

Begabte und erfolgreiche Menschen bekunden nicht selten, sie verstünden nichts von Naturwissenschaften, diese seien die Angstfächer ihrer Schulzeit gewesen. Andererseits belehren uns die Kognitionswissenschaften, dass Menschen für das Verstehen der naturwissenschaftlichen Zusammenhänge keine spezielle bzw. spezifische Intelligenz benötigen, die sich deutlich von allen anderen Denkformen unterscheidet. Ebenso gäbe es keine genetisch verankerte Veranlagung, um erfolgreich in naturwissenschaftlichen Kategorien denken zu können. Das menschliche Denken und Verstehen bedient sich also derselben Instrumentarien, zum Beispiel des Abstraktionsvermögens und des Kausaldenkens, um ganz un- terschiedliche Denkmuster, Systeme und Arbeitsmethoden zu verstehen. Wer beispielsweise philosophische Abhandlungen nachvollziehen kann, kann sich ebenso gut in betriebswirtschaftliche Modelle hineindenken. Darüber hinaus legen wissenschaftliche Befunde es nahe, dass selbst Babys und ganz kleine Kinder eine Art Abstraktionsvermögen besitzen und Ereignisse in ihrer Welt in einem kausalen Kontext ein- ordnen und verstehen können. Woran liegt es also, dass so viele gescheite Menschen den naturwissenschaftlichen Fächern nichts abgewinnen können?
Lernen macht für uns nur dann Sinn, wenn wir dabei die Chance erhalten, unser bereits erworbenes Wissen eigenständig zu vernetzen bzw. zu übertragen, um neue Zusammenhänge zu verstehen. Der Pädagoge Martin Wagenschein (1896–1988) spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Schulpädagogik nicht darauf ausgerichtet ist, die »vorwissenschaftlichen« – heute würden wir sagen die »naiven«– Vorstellungen der Jugendlichen bei der Interpretation von Naturphänomen mit einzubeziehen. Denn nur so könne es gelingen, die Sichtweisen der Jugendlichen in einen kreativen Lernprozess zu integrieren, der ihnen letztlich hilft, Wider- sprüche ihres Weltverständnisses zu entdecken und selbständig zu korrigieren. Wagenschein geht es darum, dass der Unterrichtsgang ausgehend von vertrauten Phänomen Staunen auslöst, Fragen der Kinder provoziert, Vermutungen weckt und unterstützt, Ausdenken von Experimenten fördert, ja, Kinder und Jugendliche sogar mit Fragen konfrontiert, die frühere Generationen an die Natur gestellt haben. Es geht also nicht um einen Unterricht, der sofort nur die als wissenschaftlich korrekt geltende Interpretation der Natur gelten lässt, sondern Kindern und Jugendlichen dabei hilft, selber den Weg zu den als richtig erachteten Naturgesetzlichkeiten zu beschreiten. Die modernen kognitiven Wissenschaften, die und die sagen nichts anderes, wenn es um das Verstehen und Begreifen der Wirklichkeit geht.
Vermutlich fühlen sich viele Kinder und Jugendliche vom naturwissenschaftlichen Unterricht besonders enttäuscht und frustriert, weil er ihr Weltwissen und ihre potentiellen Möglichkeiten zur Kreativität ausblendet. Doch was be- deutet Weltwissen? Diese Frage möchte ich versuchen, mit einigen Beispielen zu beantworten. Der Philosoph Descartes war davon überzeugt, dass Körper und Geist voneinander vollkommen unabhängig seien; nur der Geist könne den- ken und sich somit Wissen aneignen, der Körper jedoch nicht, nach dem Motto: Cogito, ergo sum. – Ich denke, also bin ich.
Stellen Sie sich vor, Sie könnten selber entscheiden, wie Ihr Körper sich beim Gehen, Springen, Rennen, Hüpfen, Schwimmen usw. verhalten soll. Wird es Ihnen dann bei- spielsweise gelingen, beim Gehen mit den Füßen nach vorn zu stoßen? Werden Sie, gerade stehend, also ohne in die Knie zu gehen, hochspringen können? Werden Sie beim Schwimmen vorwärts kommen können, während Ihre Arme das Wasser nach vorn schieben? Werden Sie ein Boot nach vorn bewegen können, während Sie vorwärts rudern? Werden Sie beim Radfahren eine Kurve nehmen können, ohne das Rad zu neigen? Werden Sie einen Roller vorwärts bewegen können, während Sie mit einem Fuß nach vorne stoßen?
Bei all den oben erwähnten Bewegungsabläufen, und es sind hier nur wenige aufgezählt, verhält sich unser Körper so, dass wir die beabsichtigte Bewegung ausführen können, ohne darüber nachzudenken. Unser Körper gehorcht den Naturkräften, die auf ihn wirken. Der Körper weiß also, wie er sich orientieren soll. Würde man uns fragen, welche Kräfte denn das Verhalten des Körpers lenken, werden wir ratlos werden. Auf die Frage, in welche Richtung unsere Füße sich beim Gehen bewegen, stehen selbst Studenten der Physik auf, um zu probieren, wie ihre Füße sich tatsächlich verhalten. Frage ich jedoch nach den Gesetzen von Newton, dann können sie diese mühelos aufzählen. Zum Beispiel aktio = reaktio. In der Schule haben wir wohl gelernt, dass jede Kraft, ausgeführt in die eine Richtung, eine Gegenkraft in die entgegengesetzte Richtung zur Folge hat. Immer wieder erfahren wir das Zusammenspiel von Kraft und Gegenkraft. Wir steigen zum Beispiel in einen Bus ein und entdecken einen freien Sitz im hinteren Teil. Wenn der Bus im selben Augenblick anfährt, erleben wir, wie unser Körper einen kräftigen Schub nach vorn erfährt. Doch all dieses authentische Wissen können wir nicht heranziehen, um die tagtäg- lichen Bewegungsmuster des Körpers in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen zu interpretieren. Und zwar deshalb nicht, weil in der Schule das »Wissen des Körpers« nicht ins Bewusstsein gehoben und somit zum Gegenstand des Nach- denkens gemacht wurde. Die gelernten Gesetze von Newton bleiben als totes Wissen in irgendwelchen Kanälen unseres Gehirns hängen. Ich habe Studenten der Physik, Lehramtskandidaten, ja, sogar Pädagogen folgende Frage gestellt, ohne dass ich eine einfache Antwort darauf bekam, also eine Antwort, die sich auf alltägliche Erfahrungen zurück- führen ließe: Lasse ich einen Ball auf den Boden fallen, dann springt er hoch. Lasse ich denselben Ball in einen Sandkasten fallen, dann bleibt er liegen. Wie kann man dieses Phänomen deuten?
Dabei wissen wir, dass wir im Sand nicht gut hochsprin- gen können. Wir wissen auch, dass wir zum Hochspringen die Hilfe des Bodens brauchen. Diese bekommen wir jedoch nur in befriedigendem Umfang, wenn wir, auf einem festen Boden stehend, ihn kräftig nach unten drücken, damit er uns nach oben schickt. Auf dem Sandboden gehen jedoch Teile der ausgeübten Kräfte durch das Wegbewegen des Sandes verloren. Aus demselben Grund fällt es uns schwer, eine Düne ohne große Anstrengung hochzusteigen. Die Gesetze von Newton kennt unser Körper aus unterschiedlichen Erfahrungen sehr wohl. Newton hat über sein »Weltwissen« reflektiert, Fragen an die Naturgesetze gestellt. Er hat also über das Verhalten seines eigenen Körpers bei Bewegungsabläufen nachgedacht und nach deren Gesetzmäßigkeiten gesucht. Ferner hat ihn interessiert, was man braucht, um einen sich bewegenden Gegenstand, zum Beispiel einen Fußball, zum Stillstand zu bringen. Beides ist ohne die An- wendung von Kraft nicht möglich. Die Antworten auf seine Fragen fand er in den vielen Erscheinungsformen der Natur selbst.
Diesen Aspekt hat unübertrefflich klar wie folgt zusammengefasst: Wir müssen verstehen lehren. Das heißt nicht: es den Kindern nachweisen, so dass sie es zu­ geben müssen, ob sie es nun glauben oder nicht. Es heißt: sie einsehen lassen, wie die Menschheit auf den Gedanken kom­ men konnte (und kann), so etwas nachzuweisen, weil die Natur es ihr anbot (und weiter anbietet). Und wie es dann gelang und je neu gelingt.
Wir haben offensichtlich keinen »freien Willen«, wenn wir uns mit unseren Sinnen und unserem Körper in der Welt orientieren. Aus dieser Erfahrung, die nicht hinterfragt wird, entwickeln wir unser räumliches Verständnis und die unterschiedlichen Verhaltensformen des Körpers bei verschiedenen Bewegungsarten. Zum Beispiel lernen wir bei diversen Spielarten, dass wir, je besser wir das Spiel beherrschen, umso leichter unerwartete Spielsituationen bewältigen können. Ein Fußballer denkt während des Spiels nicht über jede Bewegung nach. Sein Körper weiß, wie er sich zu verhalten hat. Diese Art des Wissens, das beim schulischen Lernen keine Rolle spielt, möchte ich als »Weltwissen« bezeichnen.
In wissenschaftlicher Sprache wird dies auch als »implizites Wissen« genannt. Hier noch einige weitere Beispiele:
Stellen Sie sich vor, Sie sind in der Lage blind zu tippen, haben lange an Ihrem Rechner gearbeitet und werden nun aufgefordert, aus dem Gedächtnis die Reihenfolge der Buchstaben auf der Tastatur aufzuzeichnen. Werden Sie es schaffen? Auch dies ist ein Beispiel dafür, dass der Körper etwas weiß, was uns nicht bewusst ist.
Das Trägheitsgesetz von Newton kann man wie folgt inter- pretieren: Ein Körper bleibt in Ruhe oder in gleichförmiger geradliniger Bewegung, solange die Summe der auf ihn wirkenden Kräfte null ist.
Auch dies kennt unsere körperliche Erfahrung, z. B. beim Seilziehen. Solange beide Parteien gleich stark am Seil ziehen, herrscht Stillstand, obwohl Kräfte ausgeübt werden.


Solange beide Parteien gleich stark am Seil ziehen, herrscht Stillstand, obwohl Kräfte ausgeübt werden.

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