An das Weltwissen der Kinder anknüpfen
Naturwissenschaftliches Lernen in der Kita ohne Hokuspokus
Ines Freitag-Amtmann im Gespräch mit Dr. Salman Ansari
Ines: Herr Ansari, Sie arbeiten derzeit mit Kindern und Erzieherinnen in Brandenburger Kitas zu Themen der Naturwissenschaften. Was macht Ihnen besonderen Spaß bei der Arbeit mit den Kindern selbst?
Ansari: Das ist immer sehr bereichernd, weil ich dadurch sehr viel erlebe. Es ist ja immer wunderbar, mit Kindern zu arbeiten, weil sie unbelastet sind von irgendwelchen Theorien. Das nenne ich auch: die Gabe der reinen Anschauung. Das ist mir sehr wichtig und das bewundere ich jedes Mal. Es macht einfach sehr viel Freude, so etwas zu erleben.
Dann die Spontaneität, der Drang zur Selbständigkeit, die Bereitschaft, Dinge nachzuahmen. Und diese unbedingte Lernbereitschaft. Und schließlich auch die Offenheit sagen zu können, so, jetzt will ich nicht mehr. So müsste es auch in der Schule sein. Dass man sagen kann, ich will nicht mehr, ich geh spielen, auch in der zehnten Klasse. Dann kommt man zurück und dann geht es weiter.
Ines: Die Gabe der reinen Anschauung bei den Kindern - was ist das? Ansari: Damit meine ich die Unbefangenheit, mit der sie die Dinge, die Naturvorgänge anschauen. Sie suchen nicht nach Begriffen, um das zu definieren. Sie sind ja frei davon. Sie stellen Fragen ohne eine akademische Vorbildung. Und das ist, glaube ich, ein ganz, ganz wichtiger Aspekt auch für die Lehrenden. Die Lehrenden lernen dadurch ungeheuer viel. Sie lernen dadurch selber richtig sehen. Nicht gleich eine richtige Antwort finden.
Ines: Haben die Kinder Ihnen geholfen so sehen zu lernen?
Ansari: Absolut. Ohne sie hätte ich das zweckfreie Sehen nicht lernen können. Ich hätte immer nach einer richtigen Antwort gesucht. Aber eine Antwort, sagen wir eine richtige Antwort, eine präzise Antwort, auf viele Fragen gibt es sie gar nicht. Daher sprechen wir in den Naturwissenschaften auch von modellhaften Vorstellungen.
Ines: Warum soll man als Erwachsener keine Erklärungen abgeben?
Ansari: Weil Erklärungen nicht nutzen. Sie, die Kinder, sollen ja die Erkenntnis selber finden. Erklärungen sind stets Wissen aus zweiter Hand. Wir bekommen ja in der Schule genug Erklärungen. Was bleibt davon verfügbar, wenn es darum geht, uns Naturphänomene verständlich zu machen? Die meisten Menschen sind total hilflos, wenn sie einfache Dinge in Naturwissenschaften erklären müssen. Dabei haben sie das alles in der Schule gehabt. Zum Beispiel bei der Frage, ob die Bäume die Nahrung über die Blätter oder die Wurzel aufnehmen, werden viele Erwachsene erst mal unsicher. Ich habe nicht selten Erwachsene erlebt, die sagen, irgendwie sehen die Blätter nach dem Regen dicker aus. Das sagen sie wirklich. Doch nach einer Weile korrigieren sie sich. Kinder dagegen haben schnell eine einleuchtende Erklärung. Sie sagen zum Beispiel: Du begießt die Pflanze ja nicht über die Blätter.
Ines: Herr Ansari, Sie haben über dreißig Jahre in der Schule als Pädagoge gearbeitet. Seit ungefähr drei Jahren arbeiten Sie auch mit Kindern im Vorschulalter und bilden Erzieherinnen und Erzieher fort. Welchen Vorteil hat die Erzieherin in der Arbeit mit Kindern, da sie ja keine Noten geben muss?
Ansari: Sie hat einen Vorteil, wenn sie sich auf die Arbeit mit den Kindern einlässt und wenn sie nicht befangen ist. Sie kann unmittelbar erfahren, wie das Erleben der Wirklichkeit für Kinder und das Verstehen derselben zusammenfallen. Aufbauend auf den Erfahrungen der Kinder kann sie das Gespräch mit ihnen über ganz alltägliche Dinge führen. Zum Beispiel, ob man das Wasser fühlen, hören und reichen kann, ob das Wasser nach dem Regen auf der Erde einfach liegen bleibt usw. Und da werden sie sehen, dass Kinder unendlich viel wissen und zu erzählen haben. Und das können die Erzieherinnen besser, weil sie weniger befangen sind von akademischen Kriterien. Naturwissenschaften sind wie irgendwelche anderen Aktivitäten im Kindergarten oder in der Schule. Sie haben die gleiche Aufgabe, nämlich dafür zu sorgen, dass Kinder sich nach ihren individuellen Anlagen optimal entwickeln können.
Ines: Der Dialog mit den Kindern ist Ihnen sehr wichtig.
Ansari: Mir ist der Dialog sehr, sehr wichtig. Natürlich ist auch die Aktivität der Kinder sehr, sehr wichtig. Aber im Kindergarten will ich bei sehr vielen Kindern dazu beitragen, dass sie über ihr implizites Wissen sprechen lernen. Dass sie über ihre Erfahrungen berichten. Sie können noch nicht so lange Sätze bilden. Einzelne kurze Sätze, das reicht schon. Dadurch kriegen sie auch das Gefühl, dass sie und ihre Erfahrungen ein zentrales Anliegen von einem Erwachsenen sind. Und dass er neugierig drauf ist. Dieses Gefühl will ich vermitteln. Das Gespräch ist mir sehr wichtig.
Ines: Und wie ist es mit Experimenten?
Ansari: Kleine Experimente können die Kinder während des Gespräches selber erfinden. Die Experimente müssen mit der Erfahrungswelt der Kinder übereinstimmen. Es sollen Themen gewählt werden, wo die Erzieherinnen sich vorstellen können, da kann mein Kind mitdenken. Es muss nicht verstummen vor lauter Hokuspokus, sondern es kann zu dieser Problematik etwas beitragen. Bei einem Experiment, was auch in vielen Büchern beschrieben ist, beobachten die Kinder, wie ein Ei in eine Flasche scheinbar hineingezogen wird, die man vorher erwärmt hatte. Die Ursache dafür ist sehr komplex und liegt außerhalb der kindlichen Wirklichkeit. Man beobachtet zwar, dass das Ei hineingezogen wird, doch in Wirklichkeit wird es von der äußeren Luft hineingedrückt. Hier fällt die Beobachtung des Vorganges nicht mit dem wissenschaftlichen Befund zusammen. Wozu also das Ganze? Wozu also die ganze Zauberei? Es ist gestohlene Zeit, die die Kinder besser zum Spielen verwenden und um sich somit geistig weiterzubilden.
Ines: Aber die Kinder staunen bei solchen Experimenten und finden es scheinbar toll.
Ansari: Ja, darum geht es mir. Ob das ausreicht, dass Kinder etwas toll finden. Ob das Lernen darauf beschränkt sein sollte, dass man irgendetwas toll findet. Die Kinder waren natürlich fasziniert, weil es wie ein Hokuspokus ist. Plötzlich ist das Ei wie von Zauberhand gezogen in die Flasche geplumpst. Doch wie geht es dann weiter? Was kann ein Kind mit diesem Bild anfangen und es benutzen, um eine andere Sache zu verstehen. Also wie und was baue ich auf diese Thematik auf?
Naturwissenschaften in Kindergärten scheinen mir so zu sein, als stellten sie einen isolierten Vorgang dar, der keiner Entwicklung bedarf. Man holt eine Kiste heraus, man macht ein Experiment, man packt die Kiste wieder weg. Welcher Zweck ist damit erfüllt? Wissenserwerb ist in einen Prozess integriert.
Beim Laufen lernen folgt nach dem ersten Schritt ein zweiter Schritt. Wenn ein Kind gelernt hat zu stehen, dann will es auch das Gehen wagen. Genau so ist es mit den Lernprozessen in den Naturwissenschaften. Es geht Schritt für Schritt.
Ines: Was wollen Sie mit Ihrer Arbeit erreichen?
Ansari: Ich will, dass eine Entwicklung im Denken der Kinder da ist, dass ein Mitdenken, ein Mitgestalten möglich ist. Thematisch etwas, worauf man aufbauen kann, was man fortentwickeln kann. Kinder wissen ungeheuer viel. Kinder können vergleichen, Kinder können dadurch auch Unterschiede feststellen, sie können zwischen Ursache und Wirkung unterscheiden lernen, sie können erzählen, sie können diskutieren, sie können Hypothesen bilden. Das alles tun sie im Alltag ja auch. Überhaupt haben wir verlernt, genau hinzusehen, weil unser Sehen durch akademische Kategorien, Begriffe und Definitionen verdunkelt ist.
Ines: Sie trauen Kindern viel zu. Welche theoretischen Erkenntnisse stützen Ihre Theorie, Ihr Vorgehen?
Ansari: Die kognitiven Wissenschaften zeigen eindeutig, wie wichtig es ist, von den Erfahrungen, von den bereits gemachten Erfahrungen eines Kindes auszugehen, wenn es darum geht, etwas Neues zu lernen. Wie ungeheuer nützlich die bereits gemachten Erfahrungen sind, um Neue zu machen. Es nutzt nichts, dass man uns die richtige Wahrheit erzählt, sondern wir müssen sie selber entdecken.
Ines: Stichwort Kindergarten. Wir sind ja hier im Kindergarten. Warum glauben Sie, dass Sie mit dieser Arbeit, die ja auch die Kognition, die geistige Entwicklung der Kinder fördert, schon im Kindergarten anfangen können?
Ansari: Kinder sind immerzu am Lernen. Und was wir Erwachsenen arroganterweise als Spiel bezeichnen, ist für die Kinder auch ein Lernen. Die Formulierung „spielerisches Lernen" verharmlost die konkrete Arbeit der Kinder. Der zentrale Punkt ist, dass sie durch „das Spiel" bestimmte Dinge begreifen lernen. Sie lernen immer. Warum soll man das nicht im Kindergarten fördern? Deshalb bin ich gegen Experimente, die gar nichts mit der Welt der Kinder, ja selbst mit der Wirklichkeit der Erwachsenenwelt gemein haben. Ich möchte zeigen, dass man die Versuche mit einem Gespräch verbinden kann. Dadurch erhalten die Kinder die Möglichkeit, die Versuche selber zu entwerfen. Man muss ihnen das nicht alles vorgeben. Ich will zeigen, dass Kinder das Potenzial haben, als Naturforscher zu agieren. Man muss es fördern und fordern, sonst machen sie das natürlich nicht.
Ines: Herr Ansari, lassen Sie uns Ihr Vorgehen, Ihre Didaktik näher betrachten. Sie stellen in Ihrer „Forscherstunde" Fragen an die Kinder. Sie geben keine Erklärungen.
Ansari: Nee, ich gebe keine Erklärungen. Das haben sie ja beobachtet. Ich erkläre nie, ich bin kein Lehrer. Ich belehre nicht. Ich weigere mich, zu belehren. Da ich davon überzeugt bin, dass Menschen Anlässe brauchen, um zu lernen. Und sie lernen selbständig. Es kommt darauf an, diese Anlässe zu schaffen, damit Menschen die Gelegenheit bekommen, ihre Selbstständigkeit zu entfalten. Dann lernen sie auch.
Ines: Sie stellen nur die Fragen. Sie kommen mit einer Ausgangsfrage, einer Ausgangsidee in die Kita?
Ansari: Ich kann ja nicht irgendwohin gehen und sagen, Kinder was wollt ihr? Das ist absolut falsch. Ich muss eine Struktur haben. Ich muss mir auch vorher Gedanken gemacht haben. Ich weiß zum Beispiel, dass der Frühling da ist, ich nehme also ein paar Blätter mit, weil ich mit Kindern darüber reden will.
Ich muss mir jedoch überlegen, was ist interessant daran, was könnte die Kinder an Blättern interessieren? Ausgehend von ihrer Erfahrungswelt, das muss ich mir schon vorher gedanklich deutlich machen. Dennoch kann das Gespräch so verlaufen, dass die Kinder auf ganz andere Ideen kommen, dann eben muss ich auch das mitmachen. Lernen ist nicht geradlinig.
Ines: Ich hab gesehen, wenn Sie den Kindern eine Frage stellen, kommt manchmal eine Frage zurück. Sie haben dann nicht den Druck, dem Kind eine Frage beantworten zu müssen. Warum?
Ansari: Ich frage: Was meinst du denn? Wenn ein Kind fragt, warum das so ist, dann gebe ich die Frage zurück: Sag mal, was meinst du? Dann kommt meistens was. Dann merkt das Kind, vielleicht kann ich das selber. Unbewusst.
Ich frage immer: Was meinst du? Wie denkst du? Ich bin von der sogenannten Pflicht zu erklären entbunden. Ich muss das nicht machen.
Ines: Sie sagten auch gerade, Sie haben eine bestimmte Idee am Anfang des Gespräches. Wie kommen Sie zu solchen Ideen?
Ansari: Ich versuche mir klar zu machen, was für die Kinder interessant sein könnte. Manchmal liege ich total falsch, oft stimmt es aber. Das habe ich auch durch die Kinder gelernt. Das ist eine Erfahrungsgeschichte. Je öfter man so mit Kindern umgeht, um so mehr erfährt man. Man lernt über die Wege, die sie gehen könnten bzw. die sie nicht gehen können. Wie sie denken und wie sie nicht denken können. Das ist ja ein Lernprozess, den man nicht in einem Buch nachlesen kann, den müssen wir Erwachsenen im direkten Umgang mit Kindern lernen.
Ines: Sie machen dabei auch selbst einen Lernprozess durch. Wie ist es für Sie?
Ansari: Unheimlich aufregend. Ich glaube, vielen Menschen ist noch nicht ganz klar, wie viel man von Kindern lernen kann. Ich habe nur meine Ausgangsfrage. Wie es endet ist immer offen.
Ines: Welche Eigenschaften der Erzieherin und des Erziehers sind wichtig, wenn sie diese Vorgehensweise ausprobieren wollen?
Ansari: Wichtig: Zeit geben, Zeit lassen, das ist wichtig. Die Fähigkeit, mit den Kindern einen Dialog zu entwickeln ist wichtig. Fragen stellen können: Wie meinst du das? Das vermisse ich. Oft antworten Erzieherinnen und Erzieher selber.
Also so ganz einfache Techniken müssen sie noch lernen, um hinter die Denkweisen der Kinder zu kommen. Und vor allem versuchen, die Ausdrucksweise des Kindes zu verstehen. Zu verstehen, dass es oft große Unterschiede gibt, zwischen dem, was ein Kind sagt und was es damit meint. Das tun sie schon im Allgemeinen, aber in Naturwissenschaften vermisse ich das. Weil sie selber vielleicht auf eine ganz bestimmte Vorgehensweise fixiert sind. Ich halte sowieso diese Kategorisierung Naturwissenschaften für unsinnig. Ich rede einfach über die Bäume, die Blätter, die Wirklichkeit.
Ines: Würden Sie lieber „Begegnung mit der Natur" sagen?
Ansari: Ja. Begegnung der Erfahrungswelt der Kinder mit der Natur. Würde ich sagen. Naturwissenschaft, da kommt wieder diese Akademisierung rein. Das ist nicht notwendig. Ich halte die Akademisierung der Kindheit für ein Problem. Ich bin dagegen.
Ines: Herr Ansari, vielen Dank für das Interview!
Ansari: Bitte.
Ines Freitag-Amtmann ist Erziehungswissenschaftlerin und Digital Media Producerin. Sie produziert derzeit eine Videodokumentation über Naturerfahrungen der Kinder in der Kita.
Erstveröffentlichung: ErzieherIn.de Das Portal für die Frühpädagogik