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17Jun/10Off

Was heißt Frühförderung und naturwissenschaftliche Bildung im Kindergarten?

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Ist dies auch Frühförderung?

In vielen Kindergärten fällt mir auf, dass die Erzieherinnen dem freien Spiel größere Bedeutung beimessen als dem Erlernen von Russisch, Englisch oder Japanisch.

Ist dies auch Frühförderung?

Wozu naturwissenschaftliche Bildung in Kitas?
Was heißt „naturwissenschaftliche Bildung in Kitas“? Zunehmend werde ich unsicher, was man darunter verstehen könnte. Angesichts der Berichte über die vielerorts unternommenen Versuche, Kindergartenkinder und Grundschüler mit Fragen zu konfrontieren, die weit von ihrer Erfahrungswelt und ihren Erfahrungsmöglichkeiten entfernt sind, nimmt meine Ratlosigkeit ständig zu. Stellvertretend für diesen Typus von Fragen nenne ich folgende4:

Können Seifenblasen auch sternförmig sein?
Brauchen Astronauten einen Raumanzug?
Warum schwimmen Eisschollen auf dem Wasser?
Wieso fliegt ein Ballon?
Warum fällt der Mond nicht herunter?
Warum steigen die Bläschen in der Fanta auf?
Warum wird ein Hühnerei beim Erhitzen hart?
Zur Beantwortung dieser Fragen wäre aus meiner Sicht folgender Wissenshintergrund notwendig:

Frage 1: Oberflächenspannung, Stabilität und Struktur;
Frage 2: Zusammenhang zwischen Temperatur und kinetischer Energie der Teilchen, atmosphärischer Druck;
Frage 3 und 4: Dichte, Aggregatzustände der Materie, die Anomalie des Wassers, Auftrieb;
Frage 5: Massenanziehung, Ursache und Art der Bewegung von Planeten;
Frage 6: Löslichkeit von Gasen in Abhängigkeit von Druck und Temperatur;
Frage 7: Aminosäuren, Denaturation.
Ich fragte Studenten und Lehramtskandidaten der Physik, Chemie und Biologie im sechsten und achten Semester, ob sie auf diese Fragen Antworten hätten. Sie konnten nur zwei Fragen beantworten.

Es wird jedoch behauptet, Kinder könnten kausale Zusammenhänge spielerisch und experimentell erkennen. Vielleicht ist es tatsächlich so. Nur bin ich bisher keinem Kind begegnet, das mir solche oder ähnliche Fragen gestellt oder darüber sinniert hätte.

Diese und sehr viele andere Zusammenhänge kann man meiner Ansicht nach nicht vereinfachen oder in Kategorien übersetzen, die leichter verständlich wären, ohne sie zu verfälschen.

In Zusammenarbeit mit mehr als 500 Kindern erlebe ich immer wieder, dass sie die Welt ganzheitlich wahrnehmen. Daher können sie die Natur nicht als eine Zusammensetzung von desperaten physikalischen, chemischen und biologischen „Wundern“ verstehen.

Es wird jedoch argumentiert, Kinder könnten nicht alles verstehen, man müsse ihnen Zusammenhänge erklären. Zu einer Erklärung gehört jedoch ein Gegenüber, in diesem Fall ein Kind. Ich muss daher überlegen, ob Inhalt und Gegenstand meiner Erklärung so beschaffen sind, dass sie ich dem Kind unter Berücksichtigung seines Vorwissens und seiner Erfahrungswelt zumuten kann. Ich muss mir gründlich überlegen, mit welchen Wörtern, Bildern, Gleichnissen, Kategorien, Beispielen und Methoden ich dem Kind die oben genannten Fragen so verständlich machen kann, dass es die Zusammenhänge verstehen kann.

Erklären ist nicht per se ein Garant für Verstehen.Denn der Vorgang des Verstehens setzt voraus, dass ich etwas zum Gegenstand meines Denkens mache. Doch zum Gegenstand meines Denkens kann nur etwas werden, das ich mit meinem vorhandenen Wissen vernetzen kann. Erklärungen ohne diesen Prozess bleiben meiner Ansicht nach wirkungslos.

Haben wir nicht in der Schule unendlich viel erklärt bekommen, und dennoch können sehr viele gebildete Menschen auf all die Erklärungen nicht zurückgreifen, um Wirklichkeitsphänomene zu verstehen oder gar sinnvoll zu erklären. Es ist Wissen aus zweiter Hand geblieben und ist folgerichtig zu trägem Wissen erstarrt.

Aber vielleicht gibt es inzwischen neue Erklärungsmuster, die dem Kind all diese bereits erwähnten komplizierten Zusammenhänge „spielerisch“ sichtbar machen. Das wäre wirklich ein ungeheurer Fortschritt in der Didaktik. Angenommen, wir haben in Deutschland einfach geniale Kinder, die all dies mit Hilfe solcher Experimente erfassen und nun wissen, ob Seifenblasen auch sternförmig sein können – dennoch bleibt die Frage, ob Kinder dieses Wissen vernetzen können, um neue Zusammenhänge zu entdecken.

Besteht das Lernen aus verschiedenen Aktivitäten, die untereinander keinen Bezug haben? Ist das Lernen nicht vielmehr in einen Entwicklungsprozess integriert? Ist der Vorgang des Lernens wirklich so einfach? Stiehlt man damit nicht den Kindern die Zeit, die sie brauchen, um im Spiel die Bewusstwerdung der Außenwelt und des eigenen Ichs zu erreichen? Wenn ein Kind stehen gelernt hat, dann will es auch laufen lernen. Oder will es sich damit begnügen, zu krabbeln?

Leider gibt es eine Überfülle von Zeitschriften, Büchern, Handreichungen, Experimentierkästen, von Projekten und Einrichtungen, die Rezepte zum Erlernen von Naturwissenschaften feilbieten. Die Verantwortlichen argumentieren, dass es angesichts der PISA–Studie dringend notwendig sei, die Naturwissenschaften bereits im einzuführen. Diese Forderung ist allerdings ein reines Konstrukt.

Mit bestem Willen kann man die Befunde der PISA–Studie nicht dahingehend interpretieren, dass fünfzehnjährige Jugendliche künftig in den Naturwissenschaften bessere Leistungen erzielen würden, wenn ihnen bereits im die Möglichkeit eingeräumt wird, unzugängliche Sachverhalte zu erkunden. Dem Experiment wird dabei stets die zentrale Rolle zugewiesen. Die Begründungen dafür haben aus meiner Sicht den Charakter von apodiktischen Feststellungen. Als exemplarisch für viele andere seien folgende Begründungen von einem Professor der Didaktik und seinen Mitarbeitern (5) erwähnt:

Experimentieren erweitert das methodische Instrumentarium der Lernenden.
Es vermittelt die Möglichkeit, Erfahrungen planmäßig herbeizuführen, zu überprüfen und zu verallgemeinern.
Es schafft und stabilisiert ein kritisches
Bewusstsein, das durch Einstellungen wie beispielsweise Neugier und Objektivität geprägt ist.
Es wird festgestellt, experimentieren könne das methodische Instrumentarium erweitern, doch es fragt sich, um was für ein methodisches Instrumentarium es sich hierbei handelt. Erweitert kann ja nur etwas werden, das bereits vorhanden ist. Woher weiß man denn, welches Instrumentarium die Schüler oder die Kinder bereits besitzen? Durch welche Attribute zeichnet es sich denn aus? Oder gibt es nur eine Kategorie von methodischem Instrumentarium, die möglicherweise bereits in den Köpfen der Didaktiker präformiert ist?

Es geht nicht darum, dass es vielleicht möglich wäre, zu erfahren, ob Kinder tatsächlich unterschiedliche methodische Instrumentarien besitzen, die möglicherweise den akademischen Ansprüchen genügen und darüber hinaus bedeutende Einblicke in die Denkstrukturen der Kinder vermitteln könnten. Immerhin wäre dies eine wichtige Aufgabe für die Didaktik. Offensichtlich beziehen sich die akademischen Ansprüche auf ein Wertesystem, dass das Denken und das Alltagsverständnis der Schüler als zweitrangig betrachtet, weil vorrangig das formalisierte Denken für das Verstehen der Naturwissenschaften als adäquat erachtet wird.

Die Fähigkeit zur Abstraktion setzt jedoch eine gründliche Auseinandersetzung mit konkreten Ereignissen der Wirklichkeit voraus. Es wird leicht übersehen, dass die Naturwissenschaften im Rahmen der Schulen und Kindergärten die gleiche Aufgabe haben wie die anderen Wissenschaften auch. Sie sind Mittel der Erziehung zum Denken, um die Welt besser zu verstehen.

Ich bin ratlos, wie Erfahrungen mit und ohne Experimente „planmäßig herbeigeführt werden können“, was mit der Stabilisierung des kritischen Bewusstseins gemeint sein könnte und wie ein Bewusstsein durch Objektivität geprägt werden könnte, wenn Kinder sich mit Ereignissen auseinandersetzen sollen, die fern von ihren Erfahrungsmöglichkeiten liegen. Gewiss, es wäre bequem, planmäßig Erfahrungen zu vermitteln und von vornherein zu wissen, welche Erfahrungen die Kinder und Jugendlichen mit welchem Instrumentarium überhaupt machen können. Solch ein Denken betrachtet die Kinder als Konsumenten von vorgedachten Lernzielen. Dies verdeutlichen auch die ausgewählten Themen und Experimente, die den Kindern in der Regel keinen Raum zu bieten vermögen, sich kritisch und unbefangen in das Geschehen einzubringen oder es in Frage zu stellen.

Die Tatsache, dass das Angebot sowohl für Kindergärten als auch für die als geeignet erachtet wird, offenbart die Unkenntnis über den Zusammenhang von Alter und Wahrnehmungsmöglichkeit. Frage ich beispielsweise ein dreijähriges Kind, ob im Zimmer Luft sei, dann verneint das Kind. Frage ich das Kind, wieso es meint, dass im Raum keine Luft vorhanden ist, erhalte ich die Antwort: Weil alle Fenster geschlossen sind und die Luft nicht hinein kann. Sechsjährige Kinder dagegen haben keine Zweifel daran, dass der Raum auch bei geschlossenen Fenstern Luft enthält.

Auch hierin erkennt man die Beliebigkeit der Begründungen und die Dominanz des tradierten akademischen Denkens. Die gleiche Willkür und Beliebigkeit ist am Charakter vieler Fragestellungen ablesbar. Aus welchen Gründen soll die Frage, warum Tintenfische Tintenfische heißen, untersuchenswert sein – und nicht die Frage, warum Elefanten Plattfüße haben? Wie soll eine Erzieherin entscheiden, welche dieser beiden Fragen – wenn überhaupt – besser für Drei- bis Fünfjährige geeignet oder sinnvoll wäre?

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