Was heißt Frühförderung und naturwissenschaftliche Bildung im Kindergarten?
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Der Dialog als Vorgang der personalen Begegnung
Ich denke, die Beschäftigung mit den Bildern der Natur ist nur in einem dialogischen Prozess zu verwirklichen. Dialog ist ein Vorgang der personalen Begegnung, der uns hilft, Kinder als Wissende zu erleben. Wir erfahren dann, wie Kinder über ihre Erfahrungen reflektieren und welche Aspekte ihrer „Weltbegegnung“ ihnen rätselhaft erscheinen. Im Kindergarten sollten die Kinder bei allen Tätigkeiten darin ermutigt werden, ihre Meinungen zu artikulieren, Vermutungen anzustellen, Erlebnisse zu verbalisieren, Theorien und Hypothesen zu bilden. Dies ist die wichtigste Aufgabe der Erwachsenen und in ihrer Bedeutung für den Bildungsprozess der Kinder kaum zu überschätzen. Sie ermöglicht, die potenziellen Fähigkeiten der Kinder zu erkennen und sich zu überlegen, wie man sie mittels geeigneter Aufgaben vertiefen und bei forschenden Aktivitäten zur Geltung bringen könnte.
Im dialogischen Prozess wird uns auch deutlich, dass Kinder für das Verstehen und Erlernen von Zusammenhängen über Fähigkeiten verfügen, zum Beispiel die Fähigkeiten der Analogiebildung und Nachahmung; des Argumentierens und Schlussfolgerns, der Unterscheidung zwischen Ursache und Wirkung, des zufälligen und des unbewussten Registrierens von Ereignissen und Bildern. Insgesamt beschreiten Kinder gleiche Wege des Lernens wie die Erwachsenen auch. Im Vergleich zu den Erwachsenen verfügen sie naturgemäß über wenig Erfahrung. Der Zuwachs an Erfahrung setzt voraus, dass sie immer wieder angeregt werden, ihr vorhandenes Wissen mit neuen Erlebnissen zu vernetzen, Konzepte zu bilden, um weitere Zusammenhänge zu verstehen. Dies fordert die Kinder heraus, neue Erkenntnisse sinnvoll zu organisieren und sie gezielt anzuwenden. So lernen sie allmählich, wie ein dialogischer Prozess eine Vielfalt von Ideen hervorruft und darüber hinaus hilft, neue Handlungskompetenzen oder Fertigkeiten zu entwickeln.
Ohnehin entwickeln Kinder auch ohne bewusste Begegnung mit den Naturphänomenen ihre Vorstellungen über die Welt, doch bleiben diese naiv, wenn sie nicht bereits im Kindesalter eine forschende Durchdringung erfahren. Diese forschende Durchdringung sollten wir uns nicht wie unseren eigenen Physikunterricht vorstellen, sondern als Beiwerk spielerischen Handelns, das von intensivem Ernst und von ernster Absicht gekennzeichnet ist.
Und hier lauert eine weitere typische Missdeutung: Geradezu leichtfertig reden wir oft von „spielerischen Angeboten“, wenn wir meinen, Kinder könnten sich Erkenntnisse ohne Ernsthaftigkeit und Ziel aneignen, quasi beiläufig, ohne jegliche Anstrengung. Hier wird der Begriff „spielerisch“ zum trojanischen Pferd, wie der Kindheitsforscher Professor Gerd Schäfer es ausdrückt. Mit dem Lustvoll-Ernsthaften, dem Angestrengt-Leichten des originären Spiels der Kinder hat dies wenig zu tun.
Für kreatives Zusammenarbeiten kann es kein allgemein gültiges Curriculum geben. Wir sollten uns davor hüten, das Nachmachen der vielfältigen Experimentiervorlagen mit naturwissenschaftlicher Bildung zu verwechseln. Es reicht, wenn wir selbst lernen, über Naturphänomene zu staunen. Denn Staunen löst Fragen aus und regt das Nachdenken sowie das Ordnen unserer Erfahrungen an.
Die Lehrenden sollten lernen, sich auf ihre eigene „Welterfahrung“ zu besinnen, damit es ihnen gelingt, unbefangen wie die Kinder zu denken. Die Dialoge mit den Kindern werden nur gelingen, wenn wir uns einem Denken verabschieden, das nur die akademisch geprägten Interpretationen der Natur als gültig erachtet und uns suggeriert, dass seine Deutungsmuster der Wirklichkeit die Wirklichkeit selbst abbilden.
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