Salman Ansari Menschen · Natur · Leben · Literatur · Musik

17Nov/11Off

Nur heile Seelen sehen die Natur

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Aufmerksamkeit für Moos

Ich muss die Aufmerksamkeit der Kinder auf Hölzer lenken, die Algenbezüge tragen, ein Leckerbissen für die Schnecken. Ich muss die Kinder einladen, abgefallene Baumblätter abzuheben, worauf die laubfressenden Insekten sitzen. Ich versuche dabei, nur Anstöße zu geben. Die Fragen kommen nach und nach. Aber es ist von Bedeutung, dass sich solche Anlässe wiederholen. Denn nur dann können Kinder einen Lernprozess durchlaufen, der sie befähigt, sukzessive Bewusstheit ihrer Welt zu erlangen.
Es ergibt wenig Sinn, den Wald zu mythologisieren. Wir sind geneigt, unsere inneren Sehnsüchte auf den Wald zu projizieren, wenn wir dem Wald Attribute wie "heilend", "Trost spendend" oder gar "spiritualisierend" zuschreiben. Manche sprechen ja sogar von der göttlichen Natur. Was wir dabei unterschlagen: Die Natur ist nicht heilig, sie ist auch brutal. In der Natur spielt sich unaufhörlich das Drama des Fressens und Gefressenwerdens ab.
Es ist verantwortungslos und hat mit nichts gemein, wenn wir Kindern sogenannte Umwelterziehung angedeihen lassen - Pädagogen verstehen darunter vornehmlich den Aspekt der Gefährdung von Natur. Es ist aber verhängnisvoll, wenn man mit Kindern und Jugendlichen zum ersten Mal über die Natur spricht - und dabei ausschließlich ihre Zerstörung in den Mittelpunkt stellt.
Ich habe an einer Schule gearbeitet, die von Wald umgeben war. Ich kannte keinen Pädagogen dort, der mit Kindern in den Wald gegangen wäre, um die Geheimnisse zu erforschen. Als in den 70er Jahren aber das Thema "Umweltzerstörung" aufkam, scheuten sich die Pädagogen nicht einmal im Religionsunterricht, von saurem Regen und Waldsterben zu dozieren. Es ist ein Verdienst von Richard Louv, dass er uns diesen Missstand eindringlich bewusst macht.
In der Summe ist mir das Buch von Louv aber zu spekulativ. Was unseren Kindern fehlt, ist ja nicht allein die Naturerfahrung, sondern gerade die Verlässlichkeit der Beziehungen. Viele Kinder sind ausgehungert nach Zuwendung. Sie müssen erst das innere Gleichgewicht erlangen, bevor sie ihre Augen für die Natur als einen Ort des Staunens und der Beruhigung öffnen können. Weil dies in einen langen Lernprozess integriert ist, können wir, Eltern wie Pädagogen, nicht früh genug damit beginnen.

Richard Louv. "Das letzte Kind im Wald? Geben wir unseren Kindern die Natur zurück!". Beltz Verlag, Weinheim 2011, 19,95 Euro

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