Impressionen Podiumsdiskussion beim Altschülertreffen 13/10/2012
Auf der Odenwaldschule aßen wir das Brot der früheren Jahre, das beim Röderhof gebacken wurde. Es schmeckte nach Erde und Himmel, nach Zukunft und Vertrauen. Es schien den Geborgenheitshunger der Jugendlichen zu stillen. Wir Erwachsene nahmen nur noch gesättigte Gesichter wahr. Das pädagogische Gehirn vermochte nicht, die inneren Bilder der Jugendlichen aufrecht zu stellen. Diese fingen wir, wenn überhaupt, nur verkehrt auf. Wem das Brot im Halse stecken bleibt, könne woanders satt werden, sagten wir, die Odenwaldreformpädagogen.
An diesem 13. Oktober hingen sattgrüne Baumblätter des Odenwaldes zwischen den gelblich verhungerten. An diesem Tag hatte uns die nährende Mutter OSO das Röderbrot auf dem Schulgelände verweigert. Nur die ehemals Sattgewordenen waren willkommen.
Der Röderhof öffnete seine Arme und nahm ausnahmslos jeden auf. Dort gab es erst einmal Kaffee und Kuchen und dann eine Podiumsdiskussion. Veranstalter war der Verein „Glasbrechen“.
Es liegt so viel zerbrochenes Glas in Oberhambach herum, dass man sich hier kaum unverletzt bewegen kann. Offensichtlich gibt es eine besondere Technik der Orientierung, unverwundet davon zu kommen. Allerdings beherrschen diese ausschließlich die Mitarbeiter und die Schulleiterin der Odenwaldschule. Auch dieses Phänomen sollte die Podiumsdiskussion beleuchten. Auf dem Podium sitzend ergriff Tilman Jens das Wort. Er erinnerte uns daran, dass vor zwei Jahren, anlässlich des 100. Geburtstags der Schule, auch eine Podiumsdiskussion stattgefunden hätte, diese sei von Johannes von Dohnanyi, den er, Tilman Jens, nicht gut leiden könne, glänzend eingeleitet worden. Überhaupt glänzte Tilman Jens durch seine Werturteile. Er kritisierte die Odenwaldschule in Bezug auf die nicht geleistete Aufklärung, doch ansonsten sei sie eine gute Schule. Jens besitzt überhaupt die Gabe, einem die Augen für eine Dialektik zu öffnen, die vermutlich einzigartig ist. Der zweite Gast auf dem Podium, Christian Füller, beleuchtete das Familienprinzip der Odenwaldschule vor dem Hintergrund seiner Fragwürdigkeit und insbesondere als Keimzelle des sexuellen Missbrauches. Dem widersprachen viele Anwesende im Gleichschritt mit Tilman Jens. Prinzipien, dachte ich, sind eine Art Richtschnur, um die Realisierung eines durchdachten Konzepts zu gewährleisten. Das Familienprinzip der Odenwaldschule war und ist eine leere Hülse. Denn es fehlte und fehlt immer noch an Personen, die in der Lage wären, dem Prädikat "Familie“ gerecht zu werden. Die Leitung einer Familie, die in keiner Weise einer natürlichen Familie entspricht, stellt hohe Ansprüche an die Erwachsenen. Diese Aufgabe können jedoch nur Personen mit entsprechenden Qualifikationen bewältigen. Gefragt sind Menschen mit Lebenserfahrung und der Fähigkeit, sich selber beobachten und verstehen zu können, damit sie sich stets über ihre Verantwortung im Klaren sind. Eine Familie der heutigen und der gestrigen Odenwaldschule durfte jedoch jeder leiten, ohne jegliche Qualifikation diesbezüglich. Auch ich gehörte dazu. Es handelte sich dabei in der Mehrzahl um Dilettanten, die weder die Balance zwischen Nähe und Distanz zu wahren wussten, noch in der Lage waren, ein Vorbild für die Jugendlichen zu sein. Jeder stellte seinen Dilettantismus auch noch als Besonderheit dar. Bei so viel Willkür konnten die Pädophilen ihre Praxis unbehelligt als normal empfinden. Hinzukam, dass jede „Familie“ eine hermetische Einheit bildete. Die Verweigerung von Klarheit und Transparenz förderte einerseits die Einbildungskraft der Dilettanten, sie seien große Pädagogen; anderseits konnten die Pädophilen hemmungslos Biographien von unzähligen Jugendlichen unheilbar zerstören. Aber auch viele beherzte Reformpädagoginnen und Reformpädagogen brauchten nicht, ihr Verlangen nach Knaben bzw. Mädchen zu sublimieren. Dass sich prinzipiell an diesem „Familienprinzip“ nichts geändert hat, wollen die heutigen Verantwortlichen mit einem sogenannten „Vieraugenprinzip“ relativieren. Es handelt sich dabei um vier Augen von Mitarbeitern. Wieder einmal ein Akt des Dilettantismus, der sich als Kontrollprinzip feiern lässt. Nicht nur dies; die Schule will statt Aufklärung lieber ins Diffuse ausweichen. Dafür hat sie das Konstrukt „Andachtsraum“ verwirklicht. Doch an wen würde man sich beim Andenken denken? Welche geistige und seelische Tiefe würde man dabei erreichen können, wenn statt handeln Esoterik betrieben wird?
Ein Herr, der in den sechziger Jahren Schüler der Odenwaldschule war, sang in hohen Tönen das Loblied der heutigen Schule. Diese Schule hätte in den letzten zwei Jahren viel erreicht und geändert. Alles sei zu loben. Nur die Betroffenen des sexuellen Missbrauchs weigerten sich, die großen Veränderungen zu würdigen. Der Herr glaubt sicher, dass man binnen zwei Jahren Umwälzungen bewältigen kann, wofür Jahre einer qualifizierten Arbeit nötig wären. Doch auf der Odenwaldschule waren immer Wunder möglich. Es bleibt eine Schule demagogischer Floskeln und weniger Superlative, und die Lüge ist einer davon.