Die Alete-Elite wird später auch nicht schlauer sein
FOCUS-SCHULE: Neuerdings gibt es Chemie-, Physik- und Biologielehrbücher, die sich an Eltern und Erzieherinnen von Zweijährigen richten. Schon die Kleinsten sollen an die Naturwissenschaften herangeführt werden. Sie sind promovierter Chemiker, warum freut Sie so was eigentlich nicht?
SALMAN ANSARI: Ich schaue mir solche Bücher inzwischen nicht mal mehr an. Ich plädiere dafür, Chemieunterricht erst in der zehnten Klasse einzuführen. Aus eigener Erfahrung weiß ich: Vorher sind Kinder nicht in der Lage, in Modellen zu denken. Sie können sie bis zu einem gewissen Grad lernen, verstehen können sie sie nicht. Chemie und Physik sind viel zu abstrakt, damit überfordern wir jüngere Kinder.
FOCUS-SCHULE: Mit dieser Meinung stehen Sie ziemlich allein da. Angeblich waren die Kinder in Krippen und Kindergärten bislang chronisch unterfordert. Was sagen Sie jenen Eltern, die es begrüßen, dass dort endlich ein neuer Wind weht?
ANSARI: Es gibt Hirn- und Lernforscher, die sich vor der frühkindlichen Bildungshysterie genauso gruseln wie ich. Eltern möchte ich sagen, dass ich seit Jahren Kindergärten besuche und die Arbeit der Erzieherinnen sehr schätze. Die meisten versuchen, den Kindern die Kindheit zu erhalten. Sie verteidigen das freie Spiel zu Recht und hüten sich davor, es mit dem Unterricht zu übertreiben.
FOCUS-SCHULE: Jetzt übertreiben Sie aber. Im Kindergarten findet doch noch kein Unterricht statt . . .
ANSARI: Seit Pisa gelten Kitas als Orte, die alles richten sollen und können. Wenn wir die Kinder nur früh genug bilden, kommen wir im Ranking nach oben, lautet das Credo. Private Einrichtungen, in denen Englisch und Naturwissenschaften angeboten werden, erhöhen zusätzlich den Druck – auch auf die öffentlichen Einrichtungen. Die zunehmende Akademisierung der Kindheit bringt aber leider gar nichts. Die Alete-Elite, die schon im Kindergarten beschult wird, wird später auch nicht schlauer sein.
FOCUS-SCHULE: In vielen Kindergärten gibt es heute sogenannte Forscherkisten mit kindgerechten Versuchsanordnungen zu Themen wie Luft, Farbe, Schall oder Elektrizität. Was haben Sie dagegen, wenn eine Erzieherin ein- oder zweimal in der Woche mit den Kindern so ein Experiment macht?
ANSARI: Eine vorgegebene Versuchsanordnung kann gar nicht kindgerecht sein. Solche Experimente sind viel zu kompliziert.
FOCUS-SCHULE: Viele Eltern schwören, dass ihre Kinder von den Experimenten begeistert sind und sich schon auf das nächste Mal freuen.
ANSARI: Dass Kinder etwas gern tun oder toll finden, sagt noch lange nichts darüber aus, ob es auch gut für sie ist. Die meisten Kinder lieben Süßigkeiten, und niemand käme auf die Idee, zu behaupten, dass es von irgendeinem Vorteil ist, Süßigkeiten zu essen.
FOCUS-SCHULE: Was spricht gegen Forscherkisten im Kindergarten oder in der Grundschule?
ANSARI: Mit der Interpretation solcher Versuche tun sich Laien schwer, selbst wenn sie eine entsprechende Fortbildung gemacht haben. Erzieherinnen oder Grundschullehrer sind nun mal keine Naturwissenschaftler. Die Gefahr ist groß, dass die Kinder durch die Erklärungen zu solchen Versuchen Fehlvorstellungen erwerben, die später nur mühsam zu korrigieren sind. Außerdem: Selbst Erwachsene haben Schwierigkeiten zu erklären, wie ein Stromkreis funktioniert. Warum sollten wir Kinder schon im Kindergarten mit Themen belasten, die sie unmöglich nachvollziehen können?
FOCUS-SCHULE: Lehnen Sie naturwissenschaftliche Bildung in Kitas und Grundschulen grundsätzlich ab?
ANSARI: Ich halte die einschlägigen Bücher, Zeitschriften, Experimentierkästen oder den üblichen Forscherkram in Kitas und Grundschulen für wenig hilfreich, gar schädlich. Warum ist der Himmel blau? Warum brauchen Astronauten Raumanzüge? Wieso fliegt ein Ballon? Angeblich wollen die Kinder das ja wissen. Seit Jahren besuche ich Kindergärten, und noch nie habe ich gehört, dass ein Kind eine solche Frage gestellt hätte. Wir sollten Kindern nicht dauernd etwas erklären, wenn sie gar nichts gefragt haben.
FOCUS-SCHULE: Wie lautet Ihr Vorschlag?
ANSARI: Sinnvoll wäre es, den Alltag zum Anlass für einen Dialog zu nehmen. Wenn ich einen Kindergarten besuche, und wir sitzen im Sandkasten, versuche ich, ein Gespräch über Sand zu beginnen. Ich sage vielleicht: „Es ist immer Sand im Sandkasten und nie Gartenerde.“ Dann fangen die Kinder an zu überlegen. Vielleicht sagt irgendwann eines: Sand ist praktischer, er ist schneller wieder trocken als Erde. Dann diskutieren die Kinder, ob das stimmt. Danach schauen wir, ob eines eine Idee hat, wie man das überprüfen kann. Mit zurückhaltender Anleitung entwickeln die Kinder dann selbst ein Experiment.
FOCUS-SCHULE: Sie sind also gar nicht generell gegen Experimente?
ANSARI: Nein, aber die Kinder müssen den Versuch selbst entwickelt haben. Am wichtigsten aber ist der Dialog über die alltäglichen Dinge. Der Erwerb der Sprache fördert die Entwicklung des Denkens, also auch des Verstehens von Mathematik und Naturwissenschaften.
FOCUS-SCHULE: Was sollten Ihrer Meinung nach die Schüler der Mittelstufe statt Chemie lernen?
ANSARI: Kochen und Backen.
Referenz: Interview Claudia Jacobs, FOCUS-SCHULE, Dienstag 01.06.2010.
Juni 9th, 2011 - 20:28
Als Vater zweier Kinder im Grundschulalter empfinde ich die Antworten von Herrn Dr. Ansari als befreiend! Er bringt es (als Akademiker!) fertig – mit klaren und einfachen Sätzen – die verschrobene Bildungslandschaft wieder ein wenig ins Lot zu bringen… Was tun wir unseren Kindern an, wenn wir uns – womöglich aus einer Bildungshysterie heraus – daran wagen, ihnen die Unbeschwertheit, Ungerichtetheit und Unerschrockenheit ihrer aufnahmefähigsten Lebensjahre zu nehmen?