Frühförderung
Wir haben uns zu viel aufgeladen
FOCUS-SCHULE: Herr Ansari, können Sie den Streik der Erzieherinnen nachvollziehen?
Salman Ansari: Ja. Der Protest ist absolut berechtigt. Erzieherinnen und Grundschullehrerinnen sollten den Gymnasiallehrern zumindest gleichgestellt sein, sowohl bei der Bezahlung als auch beim Stundendeputat. Ich arbeite viel in Integrations-Kitas im Osten. Dort werden autistische Kinder, schwerhörige und schwer kranke Kinder (darunter eines, das ausschließlich über eine Sonde ernährt wird) zusammen mit gesunden betreut. Und das bis 5 oder 6 Uhr abends! Wir müssen dafür sorgen, dass die Kindergärten den Stellenwert in der Gesellschaft bekommen, der ihnen gebührt.
FOCUS-SCHULE: Einige plädieren dafür, den Beruf durch eine akademische Ausbildung aufzuwerten. Was halten Sie von einem Hochschulstudium für Erzieherinnen?
Ansari: Da bin ich skeptisch. Viele Professoren an den Unis haben vermutlich seit ihrer eigenen Kindergartenzeit keine praktische Erfahrung mehr im Umgang mit der Zielgruppe. So klingen auch viele Artikel über Früherziehung oder frühkindliche Bildung. Auf diese Weise wird der Prozess der Weltaneignung in akademischen Kategorien betrachtet und nicht im Kontext der kindlichen Wahrnehmungsmöglichkeit.
FOCUS-SCHULE: Bildungspläne für Kitas sind Ihnen suspekt?
Ansari: Ich halte die fortschreitende Akademisierung der Kindheit als Folgeerscheinung der Pisa-Studie für sehr bedenklich. Kinder lehnen Belehrungen ab. Sie bilden ihre eigenen Konzepte und Theorien. Jede Sekunde im Leben eines Kindes hat doch mit Lernen zu tun! Die Begegnung mit anderen Menschen, mit der Natur – das alles löst Lernprozesse aus. Dieser Hokuspokus mit der Frühförderung ist zweitrangig.
FOCUS-SCHULE: Und was ist vorrangig?
Ansari: In Deutschland hat sich die Zusammensetzung der Familien radikal verändert. Wir haben zunehmend Kinder, die alleine aufwachsen, sehr häufig auch nur mit einem Elternteil. Diese Kinder brauchen die Interaktion mit Gleichaltrigen. Der Kindergarten ist der einzige Ort, wo sie diese Vielfalt erfahren können. Es ist Unsinn, diese so wichtige Erfahrungszeit mit naturwissenschaftlichen Experimenten oder Sprachunterricht auf Chinesisch oder Russisch zu füllen! Die Praxisferne ist jetzt schon sehr groß. Wenn ich mit Kindern naturwissenschaftlich arbeite, dann mit dem Ziel, ihre Denkfähigkeit zu schulen und ihre Emotionalität zu fördern. Es steht dann nicht der akademische Wissenserwerb im Vordergrund, sondern das Kind.
FOCUS-SCHULE: Auch die Erzieherinnen klagen über den steigenden Erwartungsdruck in der frühkindlichen Bildung.
Ansari: Man sollte sie davon befreien, irgendwelche komischen Versuche vorzuführen, die weder sie selbst noch die Kinder verstehen. Ganz grundsätzlich sollten wir uns im Umgang mit Kindern viel mehr zurücknehmen. Erwachsene erklären zu viel – statt das Kind zu fragen: „Wie meinst du das?“
FOCUS-SCHULE: Wie meinen Sie das?
Ansari: Ein Beispiel: Wir lassen die Kinder Vögel anhand von Bildern benennen. Stattdessen könnte man die Frage stellen, ob eine Ente auch ein Haustier sein könnte. Dann überlegen die Kinder, wollen wissen, was eine Ente frisst, was sie braucht ... Das heißt, sie lernen die Gewohnheiten des Tieres aus eigenem Antrieb kennen. Fragen sollten so gestellt werden, dass sie bei Kindern auch wieder Fragen stimulieren. Das reicht schon, mehr braucht man nicht. Das ist angemessen. Aber das Einfachste ist immer das Schwierigste.
FOCUS-SCHULE: Was müssen Erzieherinnen mitbringen?
Ansari: Vertrauen in die Kinder. Die Fähigkeit, wie Kinder zu fragen. Und den Mut, auf die Fragen der Kinder mithilfe ihrer eigenen Erfahrungen zu antworten.
FOCUS-SCHULE: Welchen Ausbildungsweg empfehlen Sie?
Ansari: Lernen vor Ort. Von jemandem, der selbst Erzieher ist bzw. war und sehr viel Erfahrung hat.
FOCUS-SCHULE: Ein weiterer Diskussionspunkt ist die Gruppengröße. Haben wir zu wenig Erzieher für zu viele Kinder?
Ansari: In einigen Kindergärten sind die Gruppengrößen geeignet, in anderen überhaupt nicht. Aber man kann Strukturen schaffen, in denen sich auch mit großen Gruppen arbeiten lässt. Zum Beispiel indem man an den Tischen eine gute Altersmischung schafft. Dann wird man sehen, dass sehr viele Prozesse stattfinden zwischen jüngeren und älteren Kindern.
FOCUS-SCHULE: Was können Kinder von Kindern oder im Umgang miteinander lernen?
Ansari: Fähigkeiten, die sie brauchen, um ihr Leben zu bewältigen – wie zum Beispiel Vertrauen in sich selbst, Emotionalität, kritisches Bewusstsein und verbale Kompetenz. Das ist viel wichtiger als Wissen. Wir müssen wieder einfacher werden. Wir haben uns zu viel aufgeladen.
Referenz: FOCUS-SCHULE, Mittwoch 20.05.2009, Redakteurin Andrea Hennis
(Auf der nachfolgenden Seite 2 finden Sie die bei Focus eingestellten Kommentare zum Interview.)