„Hört auf mit der Lüge und dem Selbstbetrug“
Jahrelang sprach kaum jemand über systematischen Missbrauch an der Odenwaldschule. Selbst jetzt würden sich viele Reformpädagogen noch weigern, die Verbrechen zu thematisieren, sagt Ex-Lehrer Salman Ansari. Im Interview fordert er ein Ende des Schweigens - und erhebt heftige Vorwürfe.
Quelle: Spiegel Online
SPIEGEL ONLINE: Herr Ansari, Sie waren einer der wenigen Lehrer der Odenwaldschule, die sich an die Seite der Opfer des sexuellen Missbrauchs stellten. Wie bewerten sie die Aufklärung des Skandals?
Ansari:Zwiespältig. Die Odenwaldschule hat einerseits einen großen Schritt nach vorne getan, wenn auch unfreiwillig. Niemand wagt mehr, diese Schule blind als Zauberberg der Reformpädagogik zu verehren. Andererseits verhält sich die Pädagogenzunft weiter passiv. Viele, die genau Bescheid wissen, beschweigen weiter die Verbrechen, die im Namen der Reformpädagogik begangen wurden.
SPIEGEL ONLINE: Aber es gab eine Reihe von Kongressen und Workshops, die sich dem Thema widmeten.
Ansari: Nur auf den ersten Blick. Schaut man genauer hin, herrschen allenthalben noch Redeverbote über sexuellen Missbrauch. Früher angehimmelte Reformpädagogen wie der Haupttäter aus der Odenwaldschule, Gerold Becker, werden zu Einzeltätern abgestempelt. Kaum einer fragt: Was hat der Missbrauch mit unserer reformpädagogischen Heilslehre zu tun? Sehen Sie sich den riesigen Kongress "Arche Nova" an, auch dort soll wieder der Mantel des Schweigens ausgebreitet werden.
SPIEGEL ONLINE: Sie meinen den Bregenzer Kongress des "Archivs der Zukunft", wo sich über 1000 sogenannte Bildungsneudenker um den Filmemacher Reinhard Kahl versammeln...
Ansari: Es ist wohl das wichtigste Treffen der reformorientierten Pädagogen, Stifter, Industriellen.
SPIEGEL ONLINE: Immerhin hält dort Jürgen Oelkers einen kritischen Vortrag über die Reformpädagogik.
Ansari: Aber niemand fragt, was eigentlich mit Hartmut von Hentig los ist, dem früheren Lebensgefährten Beckers. Für Hentig sollte vergangenes Jahr in Bregenz eine Art Krönung seines Lebenswerks stattfinden. Der ganze Kongress war wie für Hentig geplant. Sein 85. Geburtstag wäre riesig gefeiert worden - wenn nicht Becker als Gewalttäter gegen mindestens 86 Jungen enttarnt worden wäre. Da fiel der Kongress aus - großes Schweigen. Diesmal darf der Kongress nicht schweigen.
SPIEGEL ONLINE: Warum sollte man in Bregenz über Missbrauch reden?
Ansari: Weil sich dort die selbsternannte Crème de la Crème der Reformpädagogik und Alternativschulen einfindet. Ihr oberster Grundsatz lautet: Das Kind und seine Unversehrtheit stehen im Mittelpunkt. In ihrer Vorzeigeeinrichtung Odenwaldschule aber sind Kinder schwer beschädigt worden. Viele der bislang bekannten 132 Opfer werden nie damit fertig werden, was ihnen Schulleiter Becker angetan hat. Wie kann es sein, dass man sich für diese Beschädigten nicht interessiert? Man sollte sich anhören, wie subtil und zugleich planmäßig die Reformpädagogen um Becker, einen Pädokriminellen, sie in die Falle gelockt haben. Man muss wissen, wie Missbrauch geschieht, um ihn verhindern zu können.
SPIEGEL ONLINE: Wenn ein Pianist Päderast ist, dann hören wir dennoch seine Musik weiter an.
Ansari: Aber ein Pianist benutzt seine Kunst nicht, um Kinder zu missbrauchen. Der Pädagoge Becker hat das getan. Er hat die wichtigsten reformpädagogischen Instrumente wie die Nähe zum Kind ganz gezielt eingesetzt, um minderjährige Schüler zu verführen oder mit Gewalt zum Sex zu zwingen. Becker hat seine Internatsfamilie in eine päderastische Kameradschaft umgewandelt, wie es der reformpädagogische Vordenker Gustav Wyneken vorgemacht hat. Becker konnte 15 Jahre lang unbehelligt sein Unwesen treiben. Darüber dürfen die Reformpädagogen nicht schweigen: Hört endlich auf mit der Lüge und dem Selbstbetrug.